Wie wird man Anarchist?

David Dürr - eigentümlich frei August/September 2018

Wurde ich kürzlich gefragt, das liege ja nicht in der Luft und auch nicht auf der Strasse. Gute Frage, dachte ich, das gibt die nächste Kolumne über bürgerlichen Anarchismus.

Ist Anarchist überhaupt etwas, das man irgendeinmal wird? Oder wird es einem von Anfang an in die Wiege gelegt? – Das eindeutig nicht: Das kleine Kind ist das Gegenteil von anarchisch im Sinn der griechischen Wortkombination An-Arche, was so viel heisst wie Ohne-Erzautorität (das deutsche „Erz“ entspricht etymologisch dem griechischen „arch“). Das kleine Kind ist komplett auf eine alles umfassende Autorität ausgerichtet, typischerweise personifiziert in der Mutter oder im Vater oder je nach dem in einer anderen Bezugsperson. Und dies so ausgeprägt, dass diese Person sozusagen zum Bestandteil der eigenen Persönlichkeit des Kindes wird. Sigmund Freud sprach bekanntlich vom „Über-Ich“, was nichts anderes als eine solche Erzautorität beziehungsweise ein archisches Element darstellt. Dies bewährt sich übrigens sehr in den frühen Lebensphasen und gibt dem noch unerfahrenen Kind die notwendige Orientierung.

Je älter das Kind aber wird, desto kritischer wird es gegenüber seiner Erzautorität oder versucht gar, sie zu vernichten. Letztendlich aber lässt es sie in Ruhe, bloss spricht es ihr das „Erz“ ab. So mag das Über-Ich der Eltern zur Partnerschaft auf Augenhöhe werden, die archische einer an-archischen Grundhaltung weichen, und so der junge Mensch erwachsen werden. Auch das bewährt sich; denn wenn es einmal darum geht, selbst Verantwortung zu übernehmen, vielleicht sogar selbst einer nächsten Generation Orientierung zu bieten, ist ein Über-Ich nicht mehr gefragt. Ein Verantwortungsträger kann nicht Befehlsempfänger sein; eine Autorität nicht einer Erzautorität unterstehen; sie mag andere Autoritäten anerkennen, aber nur auf freiwilliger Basis. 

Nun mag man sich fragen, was diese (wohl eher laienhafte) tiefenpsychologische Einordnung mit Anarchie als Gesellschaftsform zu tun hat. Vermutlich ziemlich viel, vielleicht sogar alles. Denn eine Erzautorität wie den Staat zu befürworten, heisst nicht einfach eine starke Orientierung suchen, was ja Sinn machen kann und auch niemandem zu verwehren ist. Darüber hinaus jedoch impliziert eine solche Erzautorität immer auch die Besonderheit, dass sie nicht nur für diejenigen Geltung beansprucht, die sie wollen, sondern auch für alle anderen. Dies entspricht – wie Freud in seinem Buch Massenpsychologie und Ich-Analyse aus dem Jahr 1925 beschreibt – dem eingeprägten Über-Ich des Individuums. Und eben dies führt dann im Kollektiv nicht nur zu massenhafter Selbstunterwerfung, sondern ebenso zu totalitärer Fremdunterwerfung. Als Beispiele nennt Freud die Kirche und das Heer, er hätte auch den Staat erwähnen können.

Mit anderen Worten: Wo das Über-Ich den Anspruch erhebt, nicht nur dem jeweiligen Ich, sondern auch allen anderen Befehle zu erteilen, ist der Nährboden fruchtbar für Staatsstrukturen, die von anmassender Arche geprägt sind. Wo es Menschen aber gelingt, sich von ihrem Über-Ich zu befreien und erwachsen zu werden, da entstehen Gesellschaftsstrukturen ohne Arche, An-Archie eben. 

Zurück zur Frage: Wie wird man Anarchist? Indem man erwachsen wird. 

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