Staatlichkeit infrage gestellt

David Dürr – eigentümlich frei / April 2022


In zwei Dingen bin ich ganz bei Wladimir: Zum ersten ist er wie ich in der ersten Oktober-Woche 1952 zur Welt gekommen. Wäre dies bei ihm nicht in Leningrad und bei mir in Basel gewesen, wir hätten in der Geburtsklinik Bettchen an Bettchen nebeneinander liegen können. Schon bald werden wir fast gleichzeitig unseren Siebzigsten feiern können. Ich freue mich darauf.

Zum zweiten – und das interessiert die ef-Leserinnen und Leser vielleicht noch etwas mehr – sind Wladimir und ich genau gleich der dezidierten Meinung, dass man die Staatlichkeit der Ukraine in Frage stellen muss.

Dann allerdings hören meine Gemeinsamkeiten mit Wladimir Putin auf. Was er aus der Infragestellung der Staatlichkeit der Ukraine folgern will, ist etwas komplett anderes als bei mir. Ihm dient es als Vorwand dafür, um mit Panzern und Kampfhelikoptern die Ukraine zu überfallen und sie früher oder später ganz oder teilweise in die eigene russische Staatlichkeit zu integrieren.

Weshalb aber ich Staatlichkeit in Frage stelle, hat einen ganz anderen Grund: Staatlichkeit ist an sich etwas Schlechtes, nicht nur für die Ukraine, genau gleich auch für Russland, und ebenso für die USA, Venezuela, Nordkorea, Deutschland, die Schweiz und die anderen 200 Länder dieser Erde. Staatlichkeit ist ein Begriff, der nicht nur im Völkerrecht eine Rolle spielt, wie beispielsweise jetzt bei diesem Krieg um die Ukraine, sondern auch jeweils landesintern. Staatlichkeit heisst, dass es in einem bestimmten Territorium nicht einfach Leute, Gruppen, Unternehmen, Städte, Dörfer, Kirchen, Vereine, Genossenschaften etc. gibt, sondern jeweils noch eine oberste Macht- und Führungszentrale, welche all diese vielen Akteure nach aussen vertritt und nach innen beherrscht. Nach aussen sind Staaten Völkerrechtssubjekte, nach innen sind sie Rechts- und Machtmonopolisten.

Eine solche Struktur darf man nicht nur, man muss sie in Frage stellen, und es gibt eigentlich gar keinen ernsthaften Grund, der Staatlichkeit etwas Positives abzugewinnen. Dass es zu solchen Situationen kommt wie jetzt gerade in der Ukraine, ist nur möglich, weil es Staaten gibt. Gäbe es sie nicht, wäre es nicht zu den vielen Staatenbildungs-Kriegen des 19. Jahrhunderts gekommen; hätte es keinen ersten Weltkrieg gegeben; wäre nach diesem nicht ein ukrainischer Staat entstanden; wäre dieser nicht mit anderen Staaten, worunter dem russischen, zur Staatenunion UdSSR verbunden worden; hätte es keinen zweiten Weltkrieg gegeben; hätte sich die Ukraine nach dem jämmerlichen Zusammenbruch der UdSSR nicht zu einem eigenständigeren Staat gewandelt; hätte es in der Folge keinen Bürgerkrieg zwischen Russland- und West-orientierten Gruppierungen gegeben; auch keinen staatlichen Überfall mit militärischen Waffen auf die Krim-Halbinsel; auch keine Staaten-Allianz namens Nato, die daraufhin schweres Kriegsgerät in die Gegend karrt; keine Staatenunion namens EU, deren strenge Chefin nur deshalb so kontrolliert auftritt, weil sie ihre perfekt geschniegelte Haartracht nicht ruinieren will; keine sogenannte Sicherheitskonferenz von hohen Staats-Tieren in München, wo man auf die jeweils abwesenden eindrescht; keinen mindestens 20 Meter langen Gesprächstisch, an dessen einem und anderen Ende je ein ziemlich verspannter Staatschef sitzt; keine live übertragenen Drohreden eines Staatschefs, der so alt ist, dass man sein Gelispel nicht versteht, und auf der anderen Seite eines Staatschefs, der so spreizbeinig dasitzt, dass ihm fast die Hosen reissen (sorry Wladimir).

Kurzum, wenn es Staatlichkeit nicht gäbe, hätten wir jetzt nicht schon wieder Krieg.


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