Anarchie liegt in der Luft

David Dürr – eigentümlich frei / Januar 2022


Wenigstens diesen einen und gar nicht zu unterschätzenden Vorteil hat der ganze C-Totalitarismus. In Protesten gegen die zunehmenden und nicht enden wollenden Zwangsmassnahmen klingt immer mehr grundsätzliche Kritik am Staat an. Da geht es nicht mehr einfach darum, dass der Staat weniger streng sein soll, oder dass er überhaupt mit seiner erfolglosen C-Show aufhören soll, sondern dass er selbst der Kern des Problems sei; dass wir dieses machtmonopolisierte System insgesamt überwinden sollten. Ja, es liegt so etwas wie Anarchie in der Luft.

Das gab es schon lange nicht mehr. Es ist weit über 100 Jahre her, dass man ernsthaft über zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Gesellschaftssystemen nachdachte: solche mit und solche ohne Staat. Dies war im 19. Jahrhundert, als die europäischen Revolutionen die alte Ordnung (vermeintlich) beseitigt hatten und man am Suchen einer neuen Ordnung war. Da lagen auf dem Tisch dieses Realworkshops verschiedenste Modelle: Die restaurierte und die konstitutionelle Monarchie, die demokratische Republik, der etatistische Sozialismus, der liberale Nachtwächter- und der weniger liberale Wohlfahrtsstaat, und eben auch ein Modell ohne Staat, das sich denn auch genau so nannte:

Das griechische Fremdwort «An-archie» gab es zwar schon in der Antike, doch zum prominenten Slogan für ein staatsfreies Modell wurde es erst im 19. Jahrhundert. Das Wort ist zusammengesetzt aus einerseits «Arche», was eigentlich Anfang, im übertragenen Sinn aber auch Vorrang, Prinz, Fürst, Oberherrschaft bedeutet; und aus anderseits dem verneinenden «An». «Anarchie» umschreibt also ein Gesellschaftsmodell ohne Oberherrschaft. Interessanterweise wurde das Wort immer nur in dieser Negativkombination verwendet, während das positive Wort «Archie» oder «Archismus» für Systeme mit Oberherrschaft nicht verwendet wurde. 

Eine Ausnahme bildete der heute weitgehend unbekannte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Andreas Voigt, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Universitätsprofessor in Frankfurt war. In einer Vortragsreihe über «Die sozialen Utopien» unterschied er begrifflich konsequent «anarchistische» und «archistische» Modelle. Als Exponenten der anarchistischen Utopien nannte er Max Stirner und dessen Entdecker John Mackey, als Exponenten archistischer Utopien die Anhänger des platonischen Staates. Jene nannte er «Freiheitsmänner», diese «Wohlfahrtsmänner». Heute würde man dort von einer Bottom up-, hier von einer Top down-Struktur sprechen.

Viel gemacht hat Voigt aus dieser Gegenüberstellung leider nicht. Er stellte zwar noch die interessante Frage, welche der beiden Seiten nun recht habe, um dann aber enttäuschend zu antworten: «Keine von beiden! Wir werden uns weder für die absolute Freiheit noch für den absoluten Zwang entscheiden, sondern müssen hier wie in fast allen ähnlichen Prinzipienfragen für einen Kompromiss plädieren.» In der Mitte liege zwar nicht das Beste, aber doch das am wenigsten Schlechte. Er hatte sich allen Ernstes gedacht, Archisten würden ihre Macht dosieren. Immerhin darf man seiner Naivität zugutehalten, dass er sich im Jahr 1906, als er jenen Text schrieb, nicht wirklich vorstellen konnte, was Archismus noch alles bereithielt: zwei Weltkriege, Vernichtungslager, Atombomben sowie dezentere Spätformen absoluter Zwangssysteme wie beispielsweise den C-Terror.

Und ebenso wenig konnte er sich vorstellen, wie dannzumal plötzlich wieder Anarchie in der Luft liegt.


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