Straftatbestand Querdenken

David Dürr – eigentümlich frei Juli / August 2021


Der Verfassungsschutz schützt die Verfassung, was anscheinend ziemlich viel zu tun gibt. Denn aus den knapp 100 Staatsbediensteten, die man zu diesem Zweck 1950 nach den Verfassungsverheerungen des zweiten Weltkriegs einsetzte, sind mittlerweile gegen 4'000 Vollzeit-Verfassungsschützer geworden. Allein ein Viertel davon kam in den letzten fünf Jahren dazu. Das kann entweder damit zu tun haben, dass die Schutzbedürftigkeit der Verfassung in den letzten fünf Jahren tatsächlich so dramatisch anstieg, oder aber damit, dass der Verfassungsschutz dies einfach behauptet. Es spricht einiges für die zweite Variante.

So wie gerade neustens wieder geschehen mit der spektakulären Information über das Auftauchen eines für die Verfassung offenbar brandgefährlichen Phänomens, das man nun systematisch beobachten müsse, zu dessen Bekämpfung ein breit abgestütztes Abwehrdispositiv errichtet werde, einschliesslich detaillierter Verhaltensempfehlungen an die Bürger für den Fall, dass sie mit diesem Phänomen in Berührung kommen sollten. Es ist abzusehen, dass der Bediensteten-Etat kräftig aufgestockt werden muss. Denn es geht um nichts Geringeres als um:

Querdenken!

Nun gab es allerdings Zeiten in Nachkriegsdeutschland, da war Querdenken eine Tugend. Da gehörte es zu intellektueller Unabhängigkeit, zu herrschaftsfreiem Diskurs und zu gelebter Demokratie, vor dem Staat nicht in Ehrfurcht zu erstarren, sondern ihm etwa «Sta-Mo-Kap» vorzuwerfen oder ihm seitens einer APO-Bewegung die Verfassungsrechte der Meinungs-, der Presse- und der Versammlungsfreiheit abzutrotzen. Vielfältiges Querdenken, nicht einheitliches Liniendenken war gefragt, der viel- nicht «der eindimensionale Mensch». Also war damals das, wovor man heute die Verfassung schützen «muss», ein kostbares, von der Verfassung geschütztes Gut. Weshalb nun aber diese Metamorphose des Verfassungsschutzes?

Die Erklärung ist einfach: Der Verfassungsschutz hat die Front gewechselt. War sein Schützling ursprünglich der Bürger, den es vor dem Staat zu schützen galt, so ist es heute umgekehrt; sein Schützling ist der Staat, den er vor dem Bürger schützt. Der Verfassungsschutz war als Organ eines liberalen Rechtsstaats angetreten, die Verteidigung von Recht gegen Macht zu führen, nun führt er den Angriff der Macht gegen Recht. Er hatte die Aufgabe, Raum zum Querdenken frei zu halten, nun engt er Raum auf Einheitsdenken ein.

Und was ist denn eigentlich der aktuelle Anlass zu diesem auffälligen Wandel? Natürlich Corona, was denn sonst! Es gebe nämlich, so eben neustens der Verfassungsschutz, gewisse «Querdenker», die seien nicht einfach gegen die Corona-Massnahmen des Staates (was ja schon schlimm genug wäre), sondern die nähmen dies bloss als Vorwand, um den Staat als solchen in Frage zu stellen. Diese Querdenker wagen es doch tatsächlich, nicht nur über Alternativen zu den staatlichen Corona-Massnahmen nachzudenken, sondern auch über Alternativen zum Staat. Ja schlimmer noch: Sie denken darüber nach, dass der Staat nicht nur entbehrlich sein könnte, sondern dass es ihm überhaupt an Legitimierung fehle – eine ungeheuerliche Majestätsbeleidigung beziehungsweise, wie es in Amtsdeutsch auf der offiziellen Website steht, eine «verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates».

Mochte es noch Gründe geben, so schwer sie auch zu finden sind, dem real gelebten Staat mit seinem permanenten und flächendeckenden Machtmissbrauch so etwas wie Legitimität zuzubilligen, so hat er sie spätestens mit dieser neusten Kampagne gegen Querdenken verloren. Ein Staat, der das Verneinen seiner Legitimität verbietet, hat keine.


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