Das Recht der Primaten

David Dürr – eigentümlich frei Mai 2019


Die Primaten – nach üblicher Definition umfassend Schimpansen, Menschen, Gorillas und Orang-Utans – sind sich in vielem recht ähnlich, etwa im aufrechten Gang, im gedankenvollen Blick, in den so wichtigen Handfunktionen und nicht zuletzt in ihrem sozialen Verhalten. Das ist kein Zufall angesichts der sehr weit gehenden genomischen Verwandtschaft beispielsweise zwischen Schimpansen und Menschen, aber auch aus Gründen der Verhaltensevolution. Anerkannte anthropologische Studien haben aufgezeigt und werden durch aktuelle Theorien bestärkt, wie sich Verhaltensgesetzmässigkeiten über langzeitliche Entwicklungsstufen verfeinert haben, wie aus einfachen Überlebens- und Fortpflanzungsstrategien gruppendynamisch anspruchsvolle Rollenspiele und Sozialverhalten entstanden sind, und dies nicht nur beim homo sapiens, sondern ebenso beim Schimpansen und anderen Primaten wie übrigens auch bei andern Tieren, etwa sehr anschaulich bei Wölfen und anderen Rudeltieren.

Zu solch weiterentwickelten, gleichsam kultivierten Verhaltensweisen gehören speziell auch diejenigen, die den Umgang mit Konflikten steuern. Hier haben Primaten bemerkenswerte Fertigkeiten entwickelt, welche nicht einfach die Kollision zwischen verschiedenen Interessenträgern verarbeiten, sondern jeweils erweiterte gesellschaftliche Reaktionen auslösen, die wieder Ruhe einkehren lassen und Folge- oder Kollateralschäden eindämmen. Konkret: Wenn A den B verletzt oder ihm etwas stiehlt, so greift B nicht einfach zur Selbsthilfe, sondern erweitert den Kreis der am Konflikt Interessierten, indem er um Hilfe ruft, oft gar nicht bewusst, sein Aufschrei kommt spontan, ebenso wie sein starkes Verlangen, anderen von seinem Unglück und seiner Empörung zu erzählen. Das bewährt sich deshalb, weil andere dann für ihn Partei ergreifen, ebenfalls spontan, aus Empathie. 

Je nach den Umständen ruft auch der Verletzer nach Unterstützung, etwa weil die Gegenseite zu stark reagiert, weil Formen von Lynchjustiz entstehen, die ihrerseits der Korrektur rufen. Aus diesen Erfahrungen wiederum entstehen veränderte Reaktionen für die nächsten Male und damit bewährte Verfahrensprozesse. Nach welchen Kriterien und von welchen Gesellschaftsmitgliedern diese geleitet werden, folgt ihrerseits gemachten Erfahrungen. Wer und was sich bewährt, beginnt sich herumzusprechen und als Norm zu etablieren. So lässt sich bei Studien in Schimpansenreservaten beobachten, wie jeweils bestimmte Individuen vermittelnd oder zurechtweisend eingreifen, wenn etwa Streit um knappes Futter ausbricht.

Bei hoch entwickelten Primatenarten, die eine differenzierte Sprache und sogar die Schrift kennen, werden solche Regeln und Prozesse in Büchern aufgeschrieben und auch ausserhalb von konkreten Streitfällen debattiert. Da entstehen ganze „Wissenschaften“ über das Recht, die mit ernsthaftem Forscherinteresse das Phänomen des Rechts der Primaten zu verstehen suchen. Allerdings gibt es auch Fehlentwicklungen, wo solche „Wissenschaftler“ allen Ernstes die Einbildung entwickeln, dass sie selbst es seien, die dieses Recht produzieren oder dass es irgendwelche sogenannt staatliche Machtträger brauche, die ganze Primatenpopulationen mit organisiertem Zwang zur Einhaltung von Recht zwingen. Besonders bei einer Primatenart lässt sich eine solch pathologische Tendenz recht häufig feststellen – beim homo sapiens.


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