Der Staat ging so schnell unter wie die Titanic

David Dürr – eigentümlich frei / Oktober 2021


Als kürzlich der afghanische Staat sozusagen über Nacht und ohne näheren Feindkontakt zusammenbrach, las ich in einer Zeitung den hübschen Titel «Der Staat ging so schnell unter wie die Titanic».

Ich hatte dann in jener Nacht einen Traum, der mit Afghanistan eigentlich gar nichts zu tun hatte, aber mit dem erwähnten Zeitungstitel: Ich stand auf einem Berg, schaute hinunter auf die Landschaft meiner Heimat, es schien die Sonne und die Leute dort unten gingen zufrieden ihrem Tageswerk nach. Es war keine Erinnerung an früher, auch nicht die Unmittelbarkeit des heute, sondern so etwas wie ein Rückblick aus einer besseren Zukunft. Und da stand vor mir in grossen Lettern geschrieben: «Der Staat ging so schnell unter wie die Titanic.»

Ja, sagte ich in meinem Traum, es war bemerkenswert schnell gegangen. Eben noch hatte sich so gut wie niemand vorstellen können, dass die Menschheit ausserhalb dieser schwimmenden Grossfestung mit dem stolzen Namen «Staat» überhaupt leben könnte; dass man sich ohne den gütigen, aber auch strengen Kapitän, ohne seine wichtigen Offiziere und beflissenen Matrosen auch nur halbwegs geborgen fühlen könnte. Dieses Grundvertrauen hatte sich auch nicht durch die eine oder andere Spannung erschüttern lassen, die beim Leben auf einem so grossen Schiff bisweilen auftreten kann; etwa, wenn sich einzelne Passagiere gegen allzu rigorose Schiffsregeln wehren. In solchen Fällen hatte sich dann jeweils die Schiffsmaxime durchgesetzt, die hoch oben am Hauptmast für alle sichtbar prangte: Einer für alle und alle für einen! Für die Unbotmässigen mochte dies die eine oder andere Unannehmlichkeit absetzen, das Kollektiv als Ganzes wurde aber gefestigt und die Stimmung auf dem Schiff meist wieder rasch beruhigt. 

Bei hohem Seegang, wenn das Schiff trotz seiner immensen Grösse ins Wanken geriet, war die Bereitschaft der Passagiere, sich noch so rigorosen Anordnungen und Einschränkungen seitens der Befehlshaber zu unterziehen, besonders gross. Da hatten es individuelle Unbotmässigkeiten besonders schwer, ging es doch darum, möglichst geschlossen grossen Gefahren zu trotzen. Das führte mit der Zeit zur Tendenz der Offiziere, Gefahren auch dort herbeizureden, wo es keine gab; immer öfter wurde eine kleine Wolke als grosses Gewitter, eine leicht bewegte See als Monsterwelle und ein Lüftchen als Orkan bezeichnet, sodass die Einordnung unter das Kollektiv und die Einschränkung der Individualität zum Dauerzustand wurde. Schliesslich mussten alle Passagiere permanent Schwimmwesten und Tauchbrillen mit Schnorchel tragen, da sie ja jederzeit ins Meer geschleudert werden könnten.

Dass war dann doch zu viel. Der Widerstand wuchs, das totalitäre Gehabe des Kapitäns zunächst zwar ebenso, bis dann eines Tages – so erinnerte ich mich in meinem Traum – einige Widerständler, etwas erstaunt, schon bald aber ziemlich entspannt und zunehmend amüsiert feststellten, dass da gar kein Meer war, dass das Schiff, auf dem sie lebten, nur so tat, als wäre es eines; dass sich das Leben der Menschen auf ziemlich festem Grund abspielte, dass es zwar immer wieder Gefahren gab, wogegen sich aber jeder selbst mit seinen Freunden wehren konnte, dass es jedenfalls den Kapitän und seine Offiziere hoch oben auf der Kommandobrücke gar nicht brauchte.

Und plötzlich war dieses Schiff mit Namen Staat so schnell verschwunden wie damals die Titanic bei ihrem Untergang.


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