Die viel zu grosse Schweiz und was dagegen zu tun wäre

David Dürr – Konferenz Mises Institut Deutschland 2017 / bearbeitet als Artikel Kulturmagazin 2020


Die grösste Gefahr für die Menschheit ist nicht ein Virus, nicht der Klimawandel, nicht die Profitgier des Kapitalismus, nicht die Naivität des Sozialismus, sondern der Staat. Sollte die Menschheit schon bald zugrunde gehen, dann verdankt sie das dem Staat. Solange es den Staat gibt, wird es Staatsterror geben, werden sich Totalitarismusexzesse ausweiten, können sich internationale Staatsmacht-Kartelle zum alles umfassenden Weltstaat verdichten, der alles zentral entscheidet, überwacht, durchsetzt, unterdrückt, zerstört und tötet. Die totalitäre Kernschmelze des Spezies Homo sapiens ist ein realistisches Szenario, sofern er die Dummheit begeht, das Paradigma des Staates nicht endlich zu überwinden.

Die Umbruchzeiten des späten 18. und des 19. Jahrhunderts hätten dazu Gelegenheit geboten. Nach den Revolutionen in europäischen und überseeischen Ländern war das Ancien Régime sehr grundsätzlich in Frage gestellt, war die Suche nach Alternativen angesagt und es erwachte gleichzeitig die Fähigkeit, Dinge nicht mehr einfach zu glauben, sondern sie kritisch zu untersuchen. Wahrheitsmonopole kamen in Bedrängnis, und gleich erging es politischen Monopolen. Das war eine Zeit, als man ernsthaft über Gesellschaftsorganisationen ohne Zentralmacht nachdachte, als erklärte Anarchisten nicht etwa Bomben warfen, sondern wissenschaftlich nachwiesen, an welchen Widersprüchen das Staatsparadigma krankte und welches Friedens- und Wohlstandspotenzial in einer dezentralen Gesellschaftsstruktur lag.


Der Sündenfall des Nationalstaats

Indes, wir wissen es, die Gelegenheit wurde nicht genutzt. Weder fanden anarchistische Ansätze, ob aus sozialistischer oder bürgerlicher Seite, nennenswerte Gefolgschaft, noch vermochte sich der grundsätzlich dezentral funktionierende Kapitalismus aus seiner verhängnisvollen Verbandelung mit der Staatsmacht zu lösen. Stattdessen drängte sich ein Paradigma in den Vordergrund, das zwar gewisse Neuerungen mit sich brachte, jedoch hinsichtlich zentralistischer Staatsmacht das Ancien Régime glatt in den Schatten stellte – das Paradigma «Nationalstaat». So revolutionär es sich oft gab, und so militant es bisweilen daherkam, so waren dies keine Befreiungs-, sondern letztlich Eroberungskriege, war die Stossrichtung nicht Bottom Up, sondern Top Down, war das Ergebnis nicht eine möglichst grosse Zahl befreiter Menschen, Städte, Kommunen, Klöster, Fürstentümer, Bürgerschaften, Genossenschaften, sondern eine bloss noch kleine Zahl umfassender Nationalstaaten mit jeweils grossen Territorien. Und in diesen Grossterritorien hatte nur noch einer etwas zu sagen, nämlich der Staat mit seinen zentralen Behörden und seiner immer perfekter organisierten Zentralverwaltung.

Dies war übrigens nicht nur dort der Fall, wo der Nationalstaat als konstitutionelle Monarchie restaurative Elemente aus dem Ancien Régime mit hinübernahm, wie etwa in Deutschland, anfänglich in Frankreich oder in Italien, sondern genau gleich auch bei rein republikanischen Erscheinungsformen wie etwa in der dritten Republik Frankreichs oder in der Schweiz.

Als verheerender Sündenfall erwies sich die Nationalstaatenbildung insofern, als diese gigantischen Machtballungen schon sehr bald genau das anrichteten, was solche Machtballungen halt so tun, nämlich Krieg, Zerstörung und Terror. Aussenpolitisch brachten sie nebst lokalen, aber trotzdem schrecklichen Kriegen nicht weniger als zwei Weltkriege auf den Weg; und innenpolitisch schufen sie Unterdrückungssysteme mit industriell perfektionierten Massentötungen, wie sie bis dahin völlig undenkbar gewesen waren.


Die viel zu grosse Schweiz

Was nun die Schweiz anbelangt, so war sie bei den Weltkriegen und den Massentötungen zwar nicht direkt involviert, der Sündenfall der gefährlichen Machtkonzentration fand aber auch bei ihr statt. Denn war auch ihr Nationalterritorium viel kleiner als jenes Deutschlands, Frankreichs oder Italiens, so war es gleichwohl das Ergebnis kriegerischer Eroberung: Der «Sonderbundskrieg» von 1847 war zwar eher so etwas wie ein Krieglein, das «nur» 150 Tote forderte. Doch zum einen sind dies 150 unnötige Familienkatastrophen und zum anderen zeigt sich darin das Muster, wonach tödliche Gewalt ein treuer Weggefährte von Staatenbildung ist. Bei grossen Staaten führt dies zu Weltkriegen, bei so kleinen Staaten wie der «Schweizerischen Eidgenossenschaft» zu kleineren Kriegen wie eben dem Sonderbundskrieg. 

«Zu gross» ist die Schweiz aber insoweit, als sie über das hinausgeht, was natürlich gewachsener, spontan sich bildender oder einvernehmlich vereinbarter Grösse entspricht und als sie deshalb nur mit Zwang und Gewalt errichtet und erhalten werden kann. Bei der Errichtung der «Schweizerischen Eidgenossenschaft» übrigens lag das Problem nicht nur im kriegerischen Zwang, sondern auch darin, dass der daraus neu hervorgegangene Bundesstaat auf völkerrechtswidrige Weise zustande kam. Denn vor dem Sonderbundskrieg bildeten die schweizerischen Kantone noch keinen Bundesstaat, sondern einen rechtlich lockereren Staatenbund. Anlass des Krieges war, dass die Minderheit der katholischen Kantone unter sich einen etwas engeren Verteidigungs-Sonderbund vereinbaren wollten, was der Mehrheit der reformierten Kantone nicht passte. Also griff diese Mehrheit die Minderheit der Sonderbundskantone militärisch an, besiegte sie und nötigte sie in den neu gegründeten Bundesstaat. Dafür hätte es völkerrechtlich der Einstimmigkeit bedurft. Das war also nicht die heute so gern besungene Geburtsstunde einer freiheitlichen und demokratischen Schweiz, sondern ein Staatsstreich von oben. 

Dies widersprach nicht nur dem Völkerrecht, sondern auch den Grundsätzen aufklärerischer Vernunft. So verstand sich der von Jean-Jacques Rousseau postulierte «Gesellschaftsvertrag» allemal als Vereinbarung aller Beteiligten. Zwar anerkannte er aus praktischen Gründen auch die Nützlichkeit von Mehrheitsbeschlüssen, doch konsequenterweise liess er solche nur dann zu, wenn das Mehrheitsprinzip als solches in einem ersten Vertrag einstimmig vereinbart wurde. Genau dies aber war, wie gezeigt, bei der Schweizerischen Eidgenossenschaft nicht der Fall. 


Eine fingierte Genossenschaft

Was seither als einvernehmlicher Zusammenschluss von «Volk und Ständen» daherkommt (wie es in der Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung feierlich steht), erweist sich somit als reine Fiktion. Dies nicht nur, weil 1848 gar nicht alle Kantone, sondern weil sogar bloss eine kleine Minderheit des Volkes zugestimmt hatte: In mehreren Kantonen konnte das Volk überhaupt nicht abstimmen beziehungsweise übernahm dies die gnädige Obrigkeit, bei anderen Kantonen waren nicht alle stimmberechtigt, waren etwa die Frauen ausgeschlossen. Förmlich zugestimmt hatten insgesamt 145'584 Personen, was rund 6% der damaligen Landesbevölkerung entsprach. Und abgesehen davon sind diese schon längst alle tot. Weshalb bloss soll dies für die heutige Landesbevölkerung noch bindend sein?

Immerhin gab es seither noch zwei Gelegenheiten, über die Bundesverfassung integral abzustimmen und damit sozusagen den «Gesellschaftsvertrag» neu zu vereinbaren, nämlich bei den beiden Totalrevisionen von 1874 und von 1999. Bei beiden Abstimmungen wurde die revidierte Verfassung angenommen. Allerdings stimmten 1874 bloss 12,4% der Landesbevölkerung zu; eine «Mehrheit» ergab dies aber trotzdem, weil diese nur von denjenigen bemessen wurde, die überhaupt stimmberechtigt waren (also nicht Frauen, Ausländer und Minderjährige) und von diesen wiederum nur von denjenigen, die tatsächlich teilnahmen. 1999 waren Frauen zwar stimmberechtigt, nach wie vor aber nicht Ausländer und Minderjährige, und die Teilnahme an der Abstimmung lag unter 50%. Gemessen an der Gesamtbevölkerung, für welche dieser «Gesellschaftsvertrag» Verbindlichkeit beansprucht, stimmten ganze 13% zu. Woher bloss nehmen diese das Recht, die neue Bundesverfassung auch für die anderen 87% verbindlich zu erklären?

So fiktiv und damit illegitim diese Verbindlichkeit ist, so handfest wirkt sie sich aus. Sie gibt dem Staat die Macht, Steuern zu erheben, wovon er fleissig Gebrauch macht mit einem immer perfekteren Überwachungs- und Denunziationssystem (in der Schweiz spielen nebst den Bundessteuern vor allem die Kantonssteuern eine prominente Rolle, wobei das Legitimationsdefizit dort genau gleich besteht). Weiter gibt die fingierte Rechtsverbindlichkeit dem Staat die Macht, von jungen Männern physischen Militär- oder Zivildienst zu verlangen und überhaupt jede Menge an Vorschriften und Verboten durchzusetzen, sei es aus ökologischen, sozialen, gesundheitspolitischen, raumplanerischen, chauvinistischen, ethischen, genderbezogenen oder beliebig vielen sonstigen Gründen und oft eher Vorwänden. 

Ein aktuelles, wenn auch keineswegs atypisches Beispiel sind die machtbasierten Eingriffe des Staates auf seine Untertanen unter dem Vorwand der Covid19-Bekämpfung. Das völlig verzerrte Missverhältnis zwischen angeblicher Krankheitsreduktion einerseits und Freiheitsbeschränkung sowie Wirtschaftsvernichtung anderseits legt den Schluss nahe, dass es primär um ein Manöver zur Einübung von Staatsmacht und Untertanengehorsam geht; und wie man sieht, verläuft das Manöver hervorragend, kommt Totalitarismus zügig voran. 


Austritt aus der Genossenschaft

Also drängt es sich auf, möglichst rasch dieser illegitimen Machtkonzentration ein Ende zu bereiten. Ein konsequenter Ansatz könnte der Austritt aus der angeblich vereinbarten «Schweizerischen Eidgenossenschaft» sein. Das vom schweizerischen Bundesstaat erlassene Genossenschaftsrecht sieht ein jederzeitiges Austrittsrecht aus einer Genossenschaft vor. Dies bezieht sich zwar auf private Genossenschaften, doch weshalb sollte es nicht auch für die Staats-Genossenschaft gelten; predigt der Staat doch immer, es seien alle vor dem Gesetz gleich, und auch er selbst halte sich als sogenannter «Rechtsstaat» immer an das Recht. Weshalb ihn also nicht behaften an dem, was er selbst predigt. Bitte nicht Wasser predigen und Wein trinken!

Ein solcher Austritt darf allerdings nicht bedeuten, dass man deswegen auswandern müsste. Es ginge nicht darum, aus dem Land auszutreten, in dem man sich ja heimisch fühlt und seine Familie und Freunde hat, sondern bloss die Mitgliedschaft bei der Organisation «Schweizerische Eidgenossenschaft» aufzugeben; vergleichbar mit dem Austritt aus einer Kirche oder irgend sonst einer Organisation, einem Verein, einem Club, einem Car-Sharing-Verbund. Das muss übrigens nicht ausschliessen, nach dem Austritt gewisse Dienste der Eidgenossenschaft zu benützen, beispielsweise Autobahnen, Fluglotsen, Landeverteidigung. Denn da, wo jemand Marktmacht oder gar ein Monopol hat, darf er niemandem die Geschäftsbeziehung verweigern, sondern muss sie ihm zu angemessenem Preis anbieten. So steht dies im schweizerischen Kartellgesetz, das vom Staat selbst erlassen worden ist. Also auch hier: Bitte nicht Wasser predigen und Wein trinken!

Lehnt der Staat ein solches Austrittbegehren ab, womit natürlich zu rechnen ist (die Verweigerung von Sezession gehört zum Musterverhalten von Staaten), begeht er eine Rechtswidrigkeit. Er zwingt die Sezessionswilligen zu etwas, wozu ihm – wie gezeigt – die Legitimation fehlt. Oder von der anderen Seite betrachtet: Die Sezessionswilligen haben ein Recht darauf, nicht ohne Legitimation zu etwas gezwungen zu werden, was sie nicht wollen. Das ist ihr natürliches, vor- und überstaatlich geltendes Recht. Wenn der Staat dem mit seinen «Gesetzen» entgegentritt, so ist dies nicht Recht, sondern bloss formalisierte Macht. Weshalb also sollen die Sezessionswillige nicht Klage erheben mit dem Rechtsbegehren, sie aus der Zwangsmitgliedschaft bei der «Schweizerischen Eidgenossenschaft» zu entlassen, allenfalls unter Einhaltung einer angemessenen, nicht allzu langen Kündigungsfrist? Das Recht, wenn auch zunächst noch nicht die Macht, hätten sie jedenfalls auf ihrer Seite.


J’accuse!

Das erinnert an die berühmte Klage, die der französische Romancier Emile Zola im Jahr 1898 gegen die korrupte Staatsjustiz in der Affäre Dreyfus erhob. Auch er hatte das Recht, wenn auch zunächst noch nicht die Macht, auf seiner Seite. An ein offizielles staatliches Gericht, das ja selbst Teil des korrupten Systems war, mochte er sich nicht wenden. Also wandte er sich an die Öffentlichkeit auf der Titelseite der Tageszeitung L’Aurore (Morgenröte), zerrte all die Details des Justizskandals im Detail ans Licht und erhob wütend Anklagen (j’accuse!) gegen konkrete staatliche Gremien und namentlich genannte Justizexponenten, Generäle und andere Träger des Unrechtssystems.

«Wird die Wahrheit zu lange unter Verschluss gehalten, erhält sie Explosivkraft», schrieb Zola, und tatsächlich setzte eine breite Debatte ein, begann die Macht des Systems zu wanken. Dies führte nicht nur zur Rehabilitation des unschuldig verurteilten Hauptmanns Dreyfus, sondern auch zu einigen Verbesserungen im staatlichen Justizgefüge. Dieses als solches vermochte es zwar noch nicht zu beseitigen. – Das wäre nun die Aufgabe der Klage gegen die «Schweizerische Eidgenossenschaft» auf Entlassung der Klägerinnen und Kläger aus der illegitimen Zwangsmitgliedschaft.

Die Schweiz ist klein genug, um bei ihr einen Anfang zu machen mit der Abwehr der viel zu grossen staatlichen Machtballungen. Vielleicht gelingt es so doch noch, diese grösste Gefahr für die Menschheit abzuwenden.


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