Anarchie in Bolivien?


David Dürr - Eigentümlich frei Januar / Februar 2020

Nein, leider noch immer nicht

 «Bolivien versinkt in Anarchie», las ich neulich in einer Tageszeitung im Zusammenhang mit den politischen Wirren des Andenstaates. Im Bericht dazu war die Rede von bürgerkriegsartigen Unruhen mit Bandengewalt, Plünderungen, Verletzten und sogar einigen Toten. Doch was hat das mit einem «Versinken in Anarchie» zu tun? – Gar nichts! In dieser Wendung sind mehr Fehler als sie Wörter hat. 

Fehler Nr. 1
Anarchie ist entgegen dem, was der Zeitungstitel suggeriert, nicht chaotische Unordnung. Das Wort Anarchie bedeutet nicht, wie das immer wieder mangels Fremdsprachkenntnissen behauptet wird, das Fehlen von Ordnung und damit ein Zustand von Chaos oder Bürgerkrieg. Das griechische Wort Arche heisst Anfang, im übertragenen Sinn das Erste wie englisch First oder deutsch Fürst und damit eine oberste Autorität. Also bedeutet «Archie» eine Ordnung mit oberstem Machtmonopol, und bedeutet die verneinende Wortkombination «An-Archie» das Gegenteil davon, nämlich eine Gesellschaftsordnung, die auf einen obersten Machtmonopolisten verzichtet und sich stattdessen dezentral organisiert. Soviel mal zum Begriff.

Fehler Nr. 2
In Anarchie versinkt man nicht, zu Anarchie steigt man empor. Eine Gesellschaft, die sich anschickt, sich von einem obersten Machtmonopolisten zu befreien, erhebt sich. Der Wegfall von obrigkeitlicher Unterdrückung lässt die gesellschaftlichen Verhältnisse sich aufrichten, wie Grashalme, die sich wieder erholen, wenn ein auf ihnen liegender schwerer Stein entfernt wird. Das ist eine Bewegung von unten nach oben. Anarchie verläuft Bottom-up im Gegensatz zum Machtmonopolisten, der seine Untertanen Top-down versenkt. Versinken tut man nicht in Anarchie, sondern in Archie.

Nun mag man darüber sinnieren, welches der beiden Ordnungssysteme eher zu Chaos, Unordnung und Gewalt tendiert, also zu dem, was sich zurzeit in Bolivien beobachten lässt. Der erwähnte Zeitungsartikel scheint das Problem bei der Anarchie zu orten, sozusagen beim Machtvakuum, das nun nach der Flucht von Präsident Morales zu Problemen führe. Mit anderen Worten, und das ist

Fehler Nr. 3
Schuld daran, dass die befreiten Grashalme zunächst noch etwas orientierungslos sind, sei nicht – um das obige Bild zu nehmen – der Stein, der sie so lange zerdrückt hat, sondern dessen Entfernung. Hätte man ihn nicht entfernt, wäre das Gras, zerdrückt wie es war, schön ruhig geblieben. Und schliesslich

Fehler Nr. 4
Leider ist es nicht so, dass sich Bolivien in Richtung Anarchie entwickelt. Die Chance zu Anarchie wird nicht genutzt. Zwar zeigen erste Bilder nach der Flucht des Präsidenten fröhlich feiernde Leute, die ganz offensichtlich Freiheit wittern und sich schon darauf freuen, ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen. Jedoch, Archie gibt nicht so schnell klein bei. Das zeigen nicht nur die vermummten Morales-Schlägertrupps, sondern vor allem die politischen Parteien, die Gewerkschaften, die Wirtschaftsverbände, die Kirchen und das Militär, die fieberhaft nur eines wollen, die staatliche Ordnung wiederherstellen. Nicht schnell genug kann der Thron Morales wiederbesetzt sein, und sei es nur vorübergehend; nicht schnell genug kann das Parlament wieder tagen, und sei es nur mit halbleeren Reihen; Hauptsache ist, Archie geht nicht verloren. Und mögen diese Gremien auch etwas weniger links sein als zu Zeiten Morales’, ihr Ziel ist das gleiche und nur eines: Den grossen und schweren Stein der Archie wieder zurück auf die Grashalme der Gesellschaft zu wälzen.

Dann wird es wieder schön ruhig.


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