Der Nacktmullen-Staat

David Dürr – eigentümlich frei April 2021








Soziobiologie ist ein faszinierendes Fach. Sie kam in den 1970er-Jahren vor allem von Insektenforschern auf, die sich speziell für Ameisen- oder Bienenvölker interessierten und denn auch gerne den Begriff «Ameisenstaat» oder «Bienenstaat» verwendeten. Weniger bekannt ist der «Nacktmullen-Staat», der nicht von Insekten, sondern von Säugetieren gebildet wird, also von Lebewesen, die mit dem Menschen viel näher verwandt sind als Insekten. Das legt es nahe, den Nacktmullen- mit dem Menschen-Staat zu vergleichen.

Nacktmullen sind kleine, ca. 10 cm lange, weitgehend unbehaarte Nager, die in Völkern von bis zu 300 Mitgliedern in unterirdischen Gängen leben. Entdeckt wurden sie im 19. Jahrhundert in Ostafrika. Was alsbald auffiel, war die ausgeprägte Eusozialität. Darunter verstehen Soziobiologen ein Verhalten wie bei Ameisen oder Bienen, bei dem die einzelnen Mitglieder so gut wie keine Individualität haben, sondern vollständig auf eine Teilfunktion im Rahmen der Gesamtgesellschaft ausgerichtet sind. Es herrscht eine strikte Arbeitsteilung mit Arbeitsmullen, die das Gangsystem mit starken Nagezähnen graben, befestigen, reparieren und das Abfallmaterial zu den Ausgängen befördern; mit Kampfmullen, welche die Ausgänge gegen die Feinde des Volkes, vor allem Schlangen, verteidigen; mit Betreuungsmullen, welche die Jungtiere schützen und auf ihre Erwachsenenfunktion vorbereiten.

Die prominenteste Arbeitsteilung und gleichzeitig das für die Eusozialität entscheidende Element ist die Monopolisierung der Reproduktion bei einer Königin. Ein einziges Weibchen – vergleichbar mit der Ameisen- oder der Bienenkönigin – ist fruchtbar, hat Würfe von gegen dreissig Jungen, ernährt diese aus zwölf Zitzen und kann in ihrem Leben bis zu tausend Nachkommen produzieren. Sie ist also der Urquell des ganzen Volkes. Dessen Tun und Trachten ist ausschliesslich darauf ausgerichtet, dass es der Königin gut geht, sie geschützt ist, genügend Nahrung erhält, Platz zum Gebären und Säugen hat, nach der Säugezeit die Kinder wieder abgeben und schon bald wieder einen neuen Wurf vorbereiten kann. 

Stirbt die Amtsinhaberin, kommt es zum Gerangel zwischen einigen Anwärterinnen. Es gibt nebst der Königin also eine gewisse Anzahl von Weibchen, die – einmal im Amt – fruchtbar werden könnten. Allerdings gelingt dies nur einem einzigen, demjenigen, das als erstes trächtig wird. Auch für die Besamung sind nur wenige Männchen zuständig, die nach getaner Arbeit meist nur noch kurz leben. Es ist also dafür gesorgt, dass für die alles-gebärende Urquell-Funktion strikt eine einzige Instanz zuständig ist. Es darf nicht sein, dass die mehreren Fruchtbarkeitsanwärterinnen und die mehreren Samenspender so etwas wie den Anfang einer dezentralen Gesellschaftsordnung bilden. Dafür sorgen komplexe hormonelle Steuerungen und vor allem auch das, was Soziobiologen Verhaltens- oder auch Kulturevolution nennen. Das heisst, es entwickelt sich der Nacktmullen-Staat nicht nur mit den grossen Nagezähnen, der nackten Haut oder den zwölf Zitzen der Königin, sondern vor allem auch mit dem dazugehörigen Sozialverhalten der Mitglieder, das jede Individualität ausschaltet und stattdessen auf eine alles-gebärende Monopolinstanz setzt.

Da gibt es doch bemerkenswerte Parallelen zur Verhaltens- und Kultur-Evolution des Menschen-Staats, vor allem in seiner derzeitigen Ausprägung eines Etatismus für alles oder eben einer alles-gebärenden Monopolinstanz. Weshalb bloss beschrieb der englische Evolutionswissenschaftler Alfred Russel Wallace, ein enger Wegbegleiter Darwins, den Nacktmull als «an extraordinarily ugly species“ – eine ausserordentlich hässliche Spezies?


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