Schweiz ohne Staat

David Dürr - Schweizer Monat 01.02.2011


Wir leben in einem Rechtsstaat. Das klingt gut. Aber man kann es auch anders formulieren. Wir leben in einem Staat mit Rechtsmonopol. Das klingt weniger gut. Wozu brauchen wir den Rechtsstaat eigentlich?

Es ist für uns moderne Demokraten ungewohnt, deshalb aber nicht weniger wahr: Die Schweiz ist eine Monarchie. Unser Staat stellt ein Relikt aus der Zeit des ancien régime dar, seine Grundstruktur ist die gleiche, die Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert zur Legitimierung des Königs beschrieben hat: das Volk tritt seine Macht an eine oberste staatliche Monopolinstanz ab. Es wäre eigentlich an der Zeit, dass diese die Macht dem Volk zurückgibt. Die Schweiz des nouveau régime wird nicht mehr monopolistisch, sondern polypolistisch sein. Ansonsten wird sie der heutigen gleichen. Sie wird nach wie vor mit professionellem Aufwand an jenen Anliegen arbeiten, die von Staatsvertretern heute mit luftigen Begriffen wie «soziale Gerechtigkeit », «wirtschaftliche Nachhaltigkeit» und «gesellschaftliche Verantwortung» umschrieben werden; sie wird noch immer ungeregelte Wirtschaftsdynamik zurückbinden wollen; sie wird auch durchaus ihre Strukturen und Zentren, eben ihre «Pole», ihre rechtlichen Prozeduren und Organisationen haben – nur eben alles monopolfrei.

Dieses neue Regime ist keine Fiktion, es existiert bereits: auf der Weltkugel als solcher. Auch deren Gesellschaftsstruktur ist polypolistisch, aber deswegen nicht chaotisch. Auch die Weltgesellschaft kennt Rechtsstrukturen, internationale Rechtsund Verfahrensregeln, professionelle völkerrechtliche Umsetzungsstrategien zur Bekämpfung von Ungerechtigkeit, Armut oder Ressourcenverschleiss – nur eben ohne Weltzentrum, ohne zentral definiertes Weltrecht und zum Glück auch ohne Welt-Gewaltmonopol. Die G7 und andere internationale Staatskartelle verlangen zwar unverhohlen die Ausmerzung letzter «weisser Flecken» auf ihrer globalen Machtkarte, etwa wenn es um die Eintreibung jener Zwangsgelder geht, die man gemeinhin «Steuern» nennt. Aber noch ist es nicht so weit.

Warum also nicht eine Gegenstrategie fahren und auf dem kleinen Weltstücklein Schweiz ein Regime einführen, das von vornherein schon gar keine staatsmonopolistische Landkarte kennt, quasi ein machtpolitisches Niemandsland? Warum nicht ein Stück polypolistisches Völkerrecht auf die nationale Ebene hinüberretten, bevor es auf internationaler Ebene in Vergessenheit gerät? Warum nicht eine Schweiz ohne Staat?


Der Rechtsstaat ist ein Widerspruch in sich

Zu Beginn der Neuzeit hatte es so hoffnungsvoll begonnen. Das England des 17. Jahrhunderts schickte sich an, mit seiner rule of law das ehemals römisch-imperiale Rex-Lex in ein aufgeklärtes Lex-Rex umzukehren, das heisst den König dem Recht unterzuordnen und damit so etwas wie ein Rechtsstaat zu werden. Doch dann trat das ein, was bei einer Militärjunta stets eintritt, die eine überlebte Herrschaftsclique wegputscht: sie verspricht rasche Überführung des Landes in Demokratie, fühlt sich aber schon bald im Regierungspalast ihrer Vorgänger behaglich und findet gute Gründe, die Pendenz der Volksherrschaft hinauszuschieben, bis schliesslich alle vergessen, dass eigentlich noch immer Notrecht herrscht.

So geschah es auch mit dem Rechtsstaat. Seine rule of law verpönte zwar monarchische Willkür, doch nicht die Monopolisierung des Rechts; sie bezog zwar parlamentarische Ständevertreter in die Gestaltung des Rechts ein, doch allemal als Teil der einen staatlichen Machtzentrale. Es erstaunt deshalb nicht, dass die angebliche Unterordnung des Königs unter das Recht letztlich darauf hinauslief, dem Monarchen bloss eine modernere Legitimation zu geben: statt auf Gott oder absolute Rationalität sollte er sich nun auf das Volk abstützen. Und weil diese Abstützung einen rechtlichen Titel haben sollte, nannte man sie «Vertrag», obwohl sie mit einem Rechtsgeschäft zwischen Partnern auf Augenhöhe herzlich wenig zu tun hatte. Genauso hatte Thomas Hobbes mit seinem berühmten «Leviathan» aus dem Jahr 1651 argumentiert, in dem er aus der angeblich so gewaltbereiten Veranlagung des Menschen – homo homini lupus – die Pflicht zu folgender Grundstruktur der Gesellschaft ableitete:

  • Alle Menschen im Land haben sich ihrer eigenen Macht gänzlich zu entledigen.

  • Und sie haben sie an eine einzige Stelle im Land abzutreten, die insofern das Volk als alter ego «verkörpert» – sehr anschaulich dargestellt im Riesenkönig auf dem Buchumschlag des «Leviathan», der aus lauter kleinen Menschlein zusammengesetzt ist.

Dass der Staatsrechtler Hobbes gerade auf diese Konklusion kam und nicht etwa auf eine Hinterfragung der monopolistischen Stellung seines Oberwolfs, der ja ebenso gewaltbreit ist, erstaunt bei diesem glühenden Monarchisten natürlich nicht. Erstaunlich aber ist, dass das, was wir heutzutage «Demokratie » nennen, just die beiden Merkmale der Hobbes’schen Grundstruktur aufweist. Dass die Monarchie den Monarchen überlebte und dass sogar dort, wo man später den Monarchen entliess, die Grundstruktur der Monarchie weiterhin gelten würde, hatte sich wohl nicht einmal Hobbes in seinen kühnsten Träumen erhofft.

Was wir heute haben, ist so etwas wie eine Monarchie, die Demokratie spielt. Man könnte auch sagen: eine veritable «Staats-Oper», mit wenigen Stars im Opernhaus am Bundesplatz in Bern und 7,5 Millionen Statisten im ganzen Land, die ihre Rolle als souveränes Staatsvolk so selbstvergessen spielen, dass sie meinen, es sei Wirklichkeit. In Tat und Wahrheit wird dieser landesweite Gefangenenchor noch immer beherrscht von einer Machtelite, die nicht grösser ist, als es ein königlicher Hofstaat war. Und ob das Blut in den Adern dieser Obrigkeit heute eine andere Farbe hat als damals, darf bezweifelt werden.


Dem Staat fehlt die Legitimation
 

Kein Wunder, tischt der heutige Staat seinen Untertanen recht abenteuerliche Gründe für seine Legitimation auf. So erzählen dessen Vertreter und Verteidiger, speziell in der direktdemokratischen Schweiz, was schon Robespierre im revolutionären Nationalkonvent beschworen hatte, nämlich dass hier Menschen nicht von anderen Menschen, sondern von Gesetzen regiert würden, und zwar von solchen, die sie selbst geschaffen hätten.

Wer sich einmal die Mühe nimmt, diese Behauptung auch nur einem groben Plausibilitätstest zu unterziehen, stösst auf Erstaunliches:

  • Den heute (auf Bundesebene) in Kraft stehenden Gesetzen haben nur gerade 0,33 Prozent der heutigen Rechtsunterworfenen selbst zugestimmt. Diese verblüffend tiefe direktdemokratische Quote hängt mit der geringen Anzahl von plebiszitärer im Verhältnis zu rein parlamentarischer Verabschiedung zusammen (2,9 Prozent), ferner mit verschiedenen Einschränkungen des Stimmrechts (64 Prozent), mit intertemporalen Verschiebungen (geschätzten 75 Prozent), tiefer Stimmbeteiligung (43 Prozent) und knappen Zustimmungsquoten (55 Prozent).

  • Die allermeisten Bundesgesetze (über 97 Prozent) werden ausschliesslich vom Parlament, also ohne Mitwirkung des Volkes, verabschiedet. Dies führt zur Frage, inwiefern das Volk durch die Parlamentarier vertreten wird. Vertretung heisst: Ich bin an der Entscheidung zwar nicht selbst präsent, meine Stimme wird aber entgegengenommen; ich kann meinem Stellvertreter Instruktionen geben, wie genau meine Stimme lautet; ich kann die Vollmacht jederzeit widerrufen und selbst zur Abstimmung gehen. All dies ist mir in unserer sogenannt «indirekten Demokratie» von Verfassung wegen verboten, zudem habe ich meinen «Stellvertreter» mit 30'000 anderen «Vertretenen» zu teilen.

Man mag vielleicht, wenn man lang genug sucht, auch noch den einen oder anderen echten Demokratiebezug ausmachen, doch eines bleibt klar: Wenn dieser Staat behaupten will, den Willen seiner Bürger zu vertreten, dann war auch der englische König des 17. Jahrhunderts die Verkörperung seines Volkes.


Der Staat bricht Recht
 

Dazu passt, dass dieser Rechtsstaat seinen Untergebenen Wasser predigt, selbst aber Wein trinkt:

  • Er verbietet oder beschränkt Monopole, sich selbst räumt er sie aber in grosser Zahl ein, nicht zuletzt im Bereich Gesetzgebung, Justiz und Gewalt, ja sein Fundament ist – wie gezeigt – Monopol pur.

  • Er gebietet privaten Wirtschaftseinheiten, deren Eigenkapital nur noch zur Hälfte gedeckt ist, sofort zu sanieren oder den eigenen Konkurs auszulösen. Sich selbst erlaubt der Staat von Verfassung und Gesetzes wegen seit nunmehr über 30 Jahren eine massive Überschuldung, phasenweise mit etwa doppelt so hohen Passiven wie Aktiven.

  • In Grossbanken wittert er sogenannt «systemrelevante » Risiken, weshalb er sie anhält, ihren eigenen Konkurs zu antizipieren und deshalb einzelne Betriebsteile präventiv schon mal auf separate Trägerschaften zu überführen. Bei sich selbst hat er keine Mühe, so unterschiedliche und wohl ebenso «systemrelevante» Bereiche wie Polizei, Gesundheitswesen, Bildung, Justiz, öffentlicher Verkehr, Strassen, Gesetzgebung, soziale Fürsorge, Landesverteidigung im gleichen Gefäss zusammenzufassen. Und von der Konkurssanktion als solcher nimmt er sich ohnehin schon mal aus.

  • Er schreibt seinen Untergebenen im Bundesgesetz über das Obligationenrecht vor, dass Person A von Person B nur dann Geld einfordern kann, wenn B sich dazu verpflichtet, wenn B den A absichtlich geschädigt oder sich ungerechtfertigt bereichert hat. Sich selbst erlaubt der Staat mit seinen eigenen Steuergesetzen, von hier ansässigen Menschen und Firmen beträchtliche Summen schlicht deshalb einzufordern, weil diese das Geld dazu haben. Das an staatlichen Universitäten gelehrte Steuerrecht nennt diese Abgabenart «voraussetzungslos », womit gemeint ist, dass sie auch dann zu zahlen ist, wenn weder eine Zustimmung noch eine Schädigung noch eine Bereicherung vorliegt.

  • Will sich ein Steuerpflichtiger gegen diese unverhohlene Willkür oder andere Unstimmigkeiten seiner Steuerveranlagung wehren, lässt der Staat die Streitfrage durch staatliche Gerichte entscheiden, also durch Richter, die von ihm bezahlt werden. Würde solches in einem privaten Schiedsverfahren passieren, würde der gleiche Staat nicht zögern, das Urteil we gen krasser Verletzung des Befangenheitsverbots aufzuheben.


Der Staat ist gefährlich


Unverbesserliche Etatisten werden vielleicht trotz all dem an ihrem Monoparadigma festhalten, und sei es auch bloss als notwendiges Übel: Denn ohne den Staat als letzte Machtinstanz würde doch bloss der Starke über den Schwachen herrschen, der Gewaltbereite über den Friedfertigen, der Rücksichtslose über den Hilfebedürftigen, der Gierige über den Nachhaltigen. Und eben dies sei zu vermeiden – da sind sich so gut wie alle einig.

Doch gerade diese breite Einigkeit zeigt, dass es den Staat nicht braucht, um diese Anliegen überhaupt aufkommen zu lassen, etwa weil staatliche Behördenmitglieder bessere Menschen wären mit blauem statt rotem Blut, die Gutes von ausserhalb in die Niederungen dieser Welt hinunterbrächten (auch wenn die Rollentexte einzelner Politiker bisweilen danach klingen). Ob es dann für die praktische Umsetzung dieser Anliegen wirklich den Staat braucht, ist eine ganz andere, eher organisatorische Frage, bei der kaum sehr viel für diese ineffiziente und korruptionsanfällige Monopolstruktur spricht.

Nicht nur unnötig ist der Staat, er ist vor allem auch viel zu gefährlich. Es könnte verkehrter nicht sein, die Risiken von Gewalt, Aggression etc. bei einer einzigen Stelle zu konzentrieren und deren Monopol gar noch von Verfassung wegen in Stein zu meisseln. Da werden bloss viele sich gegenseitig in Schach haltende Teufel durch einen monopolistischen und damit noch weit gefährlicheren Belzebub ausgetrieben. Dies haben unter anderem der nationalsozialistische und der stalinistische Staat gezeigt, die Gegenwart zeigt es etwa in Burma oder Belarus, und es ist davon auszugehen, dass auch die Zukunft brutale Beispiele bereithält.


Andere Szenarien
 

Wie vorgehen? Natürlich nicht mit einer Initiative zur Abschaffung des Staates. Welcher Monopolist beschliesst schon sein eigenes Ende?

Die Schweiz hat aber eine ideale Ausgangslage für den Schritt zum nouveau régime: Es gibt hier nicht bloss einen (gesamtnationalen), sondern zudem 26 (kantonale) Staaten – das Mon-Archie-Paradigma gilt also nicht in Reinform. Zwar ist jeder einzelne Kanton eine kleine Monarchie im Hobbes’schen Sinn, doch gibt es davon ziemlich viele in diesem kleinen Land. Man müsste also weder etwas abschaffen noch etwas neu aufbauen, man könnte all die vielen Staaten mit all ihren Amtsstellen, Funktionen und Zuständigkeiten belassen, bloss auf ihre Monopole dürften sie sich nicht mehr berufen.

Das wäre nicht weiter schlimm, es gäbe bloss

  • mehr Konkurrenz im Bereich ihrer Dienstleistungen, etwa durch private Schulen oder Schulen anderer Kantone, etwa durch die Securitas, die Protectas oder durch Polizeieinheiten aus anderen Kantonen, etwa durch private Streitschlichtungsangebote oder durch Gerichte aus anderen Kantonen;

  • mehr Konkurrenz auch im Bereich sozialer Dienste, sei es durch andere Kantone und Gemeinden, sei es durch Kirchen oder private Pro-Bono-Organisationen;

  • einen gewissen Konkurrenzdruck auch bei der Finanzierung von Dienstleistungen, sei es durch andere, allenfalls steuergünstigere Kantone oder sei es durch Privatorganisationen, die ihre Einnahmen nicht «voraussetzungslos», sondern als Leistungsentgelt erheben und damit um Kundschaft werben;

  • Anlass, das typischerweise stark diversifizierte Leistungsangebot der Kantone und des Bundes in Angleichung an effizientere Konkurrenten zu segmentieren und je auf eigene professionelle Träger auszulagern.

Ein geeignetes Instrument, um eben diese Strategie umzusetzen, hält unser Rechtsstaat eigentlich schon bereit: das Kartellgesetz. Denn dieses verbietet marktbeherrschenden Einheiten, «andere Unternehmen in der Aufnahme und Ausübung des Wettbewerbs zu behindern». Doch der juristisch versierte Leser weiss, und der nichtversierte Leser ahnt es: das gleiche Kartellgesetz sowie weitere staatliche Normen und nicht zuletzt die staatlich bezahlte Judikative würden dafür sorgen, dass der Staat nicht unter, sondern über das Kartellgesetz zu stehen kommt – entgegen der rule of law.

Versuchen wir es mit einem anderen Gedanken: Die einzigen Gesetze, über die sich der Staat nicht überheben kann, sind die Gesetzmässigkeiten der Wirtschaft. Er mag sich, wie gezeigt, von den selbst erlassenen Eigenkapital- und Konkursvorschriften dispensieren, aber er kann nichts daran ändern, dass das Risiko seiner Gläubiger grösser ist, wenn ihre Guthaben nicht mehr voll gedeckt sind. – Bis anhin gingen Ratingagenturen davon aus, staatliche Schuldner seien anders zu bewerten als private, da sie ja ihre künftigen Einnahmen nicht verdienen müssen, sondern ganz einfach in Form höherer Steuern beschliessen können. Ähnlichen Unsinn hatten Ratingagenturen vor einigen Jahren über die Werthaltigkeit gewisser Hypothekenverbriefungen in den USA verbreitet, was dann zur weltweiten Finanzmarktkrise geführt hat. Heute schütteln sie selbst über ihre damalige Blindheit den Kopf und geloben Besserung für künftige Fälle: Sie würden auch bei noch so renommierten Schuldnern dafür sorgen, dass deren Gläubiger den Zins einfordern, der ihrem tatsächlichen Risiko entspricht. – Der Staat ist ein solcher künftiger Fall. Und wenn er fällt, wird er nicht too big sein, um zu failen. Und zudem ist er nicht systemrelevant.

Oder – auch dies ein Szenario – hören wir doch einfach auf, in dieser Staats-Oper mitzuspielen! Wir sind ja bloss Sta(a)tisten. 

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