Die verheissungsvolle Leichtigkeit der Anarchie

Von Wolfgang Marx


Replik auf David Dürrs Vorschlag, das Gewalt- und Gesetzgebungsmonopol des Staates abzuschaffen, vorgetragen im
«Schweizer Monat» 1012 (Dezember 2013). 


Das mag beim ersten Hören verlockend klingen, wenn da einer für einen Staat ohne Gewalt- und Gesetzgebungsmonopol eintritt und verspricht, daraus werde sich nach den Mechanismen des freien Marktes eine gute Ordnung des Zusammenlebens von Menschen dann schon ergeben. Bei weiterem Nachdenken stellt sich jedoch schnell Ernüchterung ein, zu offensichtlich sind die Schwachpunkte und Denkfehler, die eine solche Verheissung zu einem letztlich uneinlösbaren Versprechen machen.


Begrenzte kognitive Ausstattung des Menschen

Ein erster, noch eher allgemeiner Einwand betrifft die Begrenztheit unserer kognitiven Ausstattung. Wir sind nicht dazu in der Lage, die tatsächliche Komplexität der Welt zu erfassen und in unserem Denken angemessen darzustellen, was dazu führt, dass unsere Versuche zu erklären, was in der Welt der Dinge und der Menschen geschieht, in der Regel zu einfach ausfallen, im Extremfall gelangen wir zu eindimensionalen, beziehungsweise monokausalen Erklärungsmustern.

Tatsächlich aber werden Ereignisse immer von mehreren Faktoren beeinflusst, die oft auf eine nicht leicht durchschaubare Weise aufeinander einwirken. Wenn wir einen Faktor manipulieren, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, kann es passieren, dass wir damit Ereignisse auslösen, die wir nicht gewollt und auch nicht vorhergesehen haben und die sich nicht immer wirksam steuern lassen – egal wie viel Aufwand wir dafür auch betreiben. Diese Erkenntnis der Systemtheorie wird durch ein unter Wissenschaftern beliebtes Bonmot auf den Punkt gebracht: Es gibt für jedes komplexe Problem eine einfache Lösung – und die ist falsch.

Vor diesem Hintergrund erscheint es naiv zu glauben, man müsse nur an einer Stellschraube drehen und alles werde gut, wenn es um eine so komplexe Angelegenheit geht, wie es die soziale Ordnung nun einmal ist. Der letzte Grossversuch, auf der Grundlage eines monokausalen Modells die gute Gesellschaft aufzubauen, hat zu einer Reihe von menschlichen und wirtschaftlichen Katastrophen geführt, die die Idee, man müsse zu diesem Zwecke nur die Produktionsmittel vergesellschaften, wohl endgültig erledigt haben. Es gibt allerdings wenig Anlass zu glauben, dass ein anderes, nicht weniger schlicht gestricktes Modell zu besseren Ergebnissen führen würde. Weder der Überstaat, der alles regelt, noch der entmachtete Staat, der nichts mehr regelt, werden das Heil auf Erden herbeiführen.


Stärker = Besser?

Der zweite Einwand betrifft die Idee, die ideale Ordnung des Zusammenlebens werde sich aus dem freien Spiel der Kräfte von selbst ergeben. Man darf bezweifeln, dass das sich durchsetzende «Stärkere» in jedem Falle immer auch das Bessere ist. Das freie Spiel der Kräfte kennt keine Moral und bringt auch «von selbst» keine hervor. Das lässt sich derzeit eindrucksvoll am Beispiel des Finanzsektors zeigen, wo ein Skandal den nächsten jagt: Libor-Manipulationen, Devisenkurs-Manipulationen, aktive Beihilfe zur Steuerhinterziehung (einschliesslich Urkundenfälschungen und Kurierdiensten mit Geldkoffern), unlautere Geschäfte mit Kleinanlegern, denen Wertpapiere aufgedrängt werden, auf deren Wertverlust die verkaufende Bank selber bereits spekuliert und, und, und. So etwas kann der Markt nicht aus sich selbst heraus regeln, so wenig wie Münchhausen sich selbst am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen kann. Dazu braucht es einen festen Standpunkt ausserhalb des Systems, dazu braucht es einen Staat, der selber nicht Marktteilnehmer und also Partei ist und der die Mittel und auch den Willen dazu hat, unlautere, gar kriminelle Praktiken wirksam zu bekämpfen.

Da aber der Teufel bekanntlich im Detail steckt, macht es Sinn, an dieser Stelle auch ein wenig auf die Details zu schauen, vor allem, wenn es um Bereiche geht, an die man nicht gerade als erstes denken würde, wenn es um die Abschaffung eines staatlichen Monopols geht, zum Beispiel um die Justiz: Wie soll es ermöglicht werden, die Rechtsprechung als eine Dienstleistung von miteinander konkurrierenden Institutionen auf einem freien Markt anzubieten? Und vor allem: was sollte dabei durch den Markt optimiert werden? Sollen da eine «Swissjus AG» und eine «Scharia GmbH» miteinander um das preisgünstigste Angebot für die Durchführung eines Mordprozesses oder einer Ehescheidung wetteifern? Nun ist aber der Preis nicht das einzige Kriterium für die Bewertung eines Produkts (in diesem Falle eines Urteils), es geht ja immer auch um seine Qualität. Wie soll festgestellt werden, welche Institution die «besseren» Urteile produziert? Und was heisst in diesem Zusammenhang «besser»? – Richtiger? Gerechter? Fairer?

Ja, diese Beurteilung könnte man prinzipiell dem Markt überlassen. Sollen doch die Kunden entscheiden, an welche Institution sie sich wenden wollen. Was aber, wenn sich die Kunden, beispielsweise ein scheidungswilliges Ehepaar, nicht einigen können, ob ihr Prozess von der «Scharia GmbH» (wie es der Ehemann will) oder der «Swissjus AG» (was die Ehefrau vorziehen würde) durchgeführt werden soll? Kann dann jede Partei an das Gericht gelangen, das ihr genehmer ist? Und was geschieht, wenn die beiden Gerichte zu unterschiedlichen Urteilen kommen, zum Beispiel darüber, wem das Sorgerecht für die Kinder zugesprochen wird. Das Scharia-Gericht würde die Kinder vielleicht dem Ehemann zusprechen, weil nach islamischer Rechtsauffassung die Kinder dem Mann gehören, wie das in allen patriarchalischen Kulturen der Fall ist. Vor einem weltlichen Gericht hingegen hätte die Ehefrau die grösseren Chancen, das Sorgerecht zugesprochen zu bekommen, weil nach moderner säkularer Rechtsauffassung Kinder nicht Eigentum ihrer Eltern sind, und somit nicht die Interessen der Eltern bei solchen Entscheidungen im Vordergrund stehen dürfen, sondern das Wohl der Kinder; und dieses sieht man in der Regel eher gewahrt, wenn die Kinder bei der Mutter verbleiben. Wie sollte ein solches Patt aufgelöst werden? Und wer sorgt für die Vollstreckung welches Urteils, wenn der Staat kein Gewaltmonopol mehr hat? Tragen dann die Büttel der «Scharia GmbH» und die Vollstrecker der «Swissjus AG» untereinander aus, wer die Kinder wem überantwortet? Und mit welchen Mitteln?

Schwierige Fragen stellen sich auch, wenn es um ein Tötungsdelikt geht. Wer sind in einem solchen Falle die Kunden? Sind es die Verwandten des Opfers? Und wenn das Opfer keine Verwandten mehr hat oder diese nicht willens oder fähig sind oder nicht das Geld dazu haben, eine Anklage zu betreiben, fällt dann ein Prozess aus, ganz nach der Devise: kein Kläger, kein Richter? Oder gibt es auch auf dem freien Markt der Justiz Offizialdelikte, die in jedem Falle verfolgt werden? Aber wer, wenn der Staat kein Monopol in Justiz-Angelegenheiten mehr hat, kann, darf, soll dann bestimmen, welche Institution die Ermittlungen aufnimmt und einen Prozess durchführt? Gilt dann das Prinzip des Windhundrennens: Wer zuerst ankommt, hat den Fall?


Wer zahlt?

Fragen über Fragen; und es hat kein Ende damit. Wer bezahlt das alles und aus welchen Mitteln? Wer bildet die Richter aus und stellt ihre Befähigung für das Amt fest, wenn es keine Zertifizierung durch Staatsexamina mehr geben soll? Wer darf Gesetze ändern, ausser Kraft setzen oder neue erlassen? Gibt es dann überhaupt noch einen für alle Bürger eines Landes verbindlichen Rechtsrahmen? Oder gilt dann: gleiches Recht für jedes Recht?

Wenn man sich zu einem solchen Grundsatz bekennen wollte, müsste man auch zulassen, dass ein Scharia-Gericht eine öffentliche Steinigung anordnen und exekutieren lassen kann; denn so steht es nun einmal im – wie viele Muslime glauben – einzig wahren göttlichen Gesetz, das zu relativieren kein Mensch das Recht hat. Und könnte dann nicht auch die Katholische Kirche auf ihrem kanonischen Recht beharren und als Kinderschänder überführte Priester einer strafrechtlichen Verfolgung durch weltliche Gerichte entziehen? Und wie wäre die Sache zu regeln, wenn die Missbrauchsopfer mit einem solchen innerkirchlichen Verfahren nicht einverstanden wären und ein weltliches Gericht anrufen würden? Wären sie dann die Kunden, die bestimmen, welche Institution den Zuschlag für das Verfahren bekommt? Oder haben auch die Angeklagten in dieser Sache ein Mitspracherecht? Und wie soll da in einem Konfliktfall entschieden werden?

Ein besonderer Fall ist das in indischen, pakistanischen und afghanischen Dörfern verbreitete Gewohnheitsrecht, dass ein improvisiertes Gericht von Stammes- oder Dorfältesten eine Familie dadurch bestraft, dass es die Massenvergewaltigung einer Frau dieser Familie anordnet. Ist das nicht auch ein lange tradiertes System der Rechtspflege? Darf sich da eine Staatsjustiz einmischen und so etwas unterbinden, gar strafrechtlich verfolgen, wie das neuerdings, wenn auch noch zögerlich in Indien zu geschehen beginnt?  

Gerade dieses drastische Beispiel einer barbarischen, menschen- und vor allem frauenverachtenden Praxis stellt einen Rechtsrelativismus in Frage, der uns einreden will, eine Rechtsauffassung sei so gut wie jede andere und was eine lange Tradition habe, sei schon deshalb gerechtfertigt. Wer davon überzeugt ist, dass allen Menschen eine Würde und gewisse unveräusserliche Rechte zukommen, kann keine Rechtspraxis akzeptieren, die diese Menschenwürde und -rechte missachtet, kann weder archaische Körperstrafen noch eine grundsätzliche Deklassierung der Frauen tolerieren.


Zurück in die Steinzeit?

Die an dieser Stelle bei weitem noch nicht ausgeschöpfte Fülle von Problemen zeigt auf, wie unfruchtbar der Vorschlag einer Entmachtung des Staates in Justiz-Angelegenheiten ist, muss doch jeder Versuch, dem Staat das Gewalt- und Gesetzgebungsmonopol zu entziehen und das Recht dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen, uns in letzter Konsequenz dahin zurückführen, wo einmal alles Rechten angefangen hat: zu Blutrache, Lynchjustiz, Faustrecht, privater Fehde und Feme und all den anderen fragwürdigen Erscheinungen eines in die eigenen Hände genommenen Rechts. Und Gewaltanwendung hört ja nicht auf, wenn der Staat sein Monopol dazu nicht mehr wahrnehmen kann oder will, sie wird dann sogleich ersetzt durch private Gewaltanwendung, wie wir das derzeit in vielen sogenannten gescheiterten Staaten sehen können: bewaffnete Banden, selbsternannte Rebellen, Drogenkartelle, Bürgerwehren nehmen jeden Raum ein, den der Staat preisgibt oder preisgeben muss, weil er nicht mehr die Kraft hat, das freie Spiel solcher Kräfte zu unterbinden und das aus diesem resultierende Morden, Vergewaltigen, Plündern, Brandschatzen und Foltern zu beenden.

Wir haben also allen Grund, die grosse zivilisatorische Errungenschaft eines Gewalt- und Gesetzgebungsmonopols des Staates zu verteidigen, die Ideen einer Gewaltenteilung, einer unabhängigen Justiz und eines Verfahrens mit Revisionsmöglichkeiten über mehrer Instanzen – und die vielleicht grösste Idee von allen: dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind.

Soweit ein paar erste und naheliegende Überlegungen – unendlich viele Probleme, die man sich im Voraus gar nicht alle vorstellen kann, würden sich noch einstellen, wollte man den Vorschlag einer Privatisierung der Justiz in Lebenspraxis umsetzen. In solchen Niederungen bewegt sich der philosophische Kopf freilich nicht, dem diese wundersame Idee vor der Seele schwebt – in diesen Niederungen aber müssen dann Menschen leben, wenn so etwas Praxis werden sollte. Möge uns der Himmel solcher Ideen nicht auf den Kopf fallen.

 

Anarchie hat es nicht leicht

Replik von David Dürr - Schweizer Monat 01.12.2013
auf die obige Replik von Wolfgang Marx - Schweizer Monat 01.12.2013
auf David Dürrs Vorschlag, das Gewalt- und Gesetzgebungsmonopol des Staates abzuschaffen, im
«Schweizer Monat» 1012 (Dezember 2013). 

Dass Wolfgang Marx mit seinen anarchistischen Überlegungen nicht einig geht, nimmt David Dürr ihm nicht übel. Schade nur, findet letzterer, dass Marx sich eher auf oberflächliche «erste und naheliegende Überlegungen» beschränkt. Replik auf die Replik. 

Dass Anarchie spätestens seit dem 19. Jahrhundert ein ernsthaftes und vielfach auch mit wissenschaftlichem Interesse debattiertes Gesellschaftsmodell darstellt und gerade auch in jüngerer Zeit so etwas wie ein prononcierter Neoanarchismus entsteht, ist an Wolfgang Marx vermutlich vorbei gegangen. Anders lässt sich nicht erklären, dass die drei Themenbereiche, die er als Argumente gegen die Anarchie ins Feld führt, zu den stärksten Argumenten für diese Gesellschaftsform gehören:

- Am offensichtlichsten ist dies beim ersten Themenbereich der Fall, nämlich der begrenzten Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Der Mensch sei – so Marx – gar nicht in der Lage, die Komplexität der Welt zu erfassen. Simple Lösungsansätze seien deshalb untauglich. Dies zeige beispielsweise der gescheiterte Grossversuch eines «monokausalen Modells» der Vergesellschaftung aller Produktionsmittel, womit offenbar der real gelebte Sozialismus sowjetischer Prägung mit seinem «Überstaat» angesprochen wird. Dieser Kritik kann nur vorbehaltlos zugestimmt werden. Rätselhaft ist allerdings, inwiefern sie ein Argument für den Staat und gegen die Anarchie sein soll. Der Staat ist immer «Überstaat», er masst sich immer das letzte Wort an, er will – prominent im Bereich des Gewaltmonopols – immer als Sieger vom Platz schreiten. Und in den Bereichen seiner selbst definierten sogenannten Kernaufgaben duldet er keine Konkurrenz. Er ist die institutionalisierte Perfektion des «monokausale Modells», das Wolfgang Marx zurecht ablehnt.

Im Gegensatz dazu definiert sich An-Archie (= Fehlen eines obersten Herrschaftsmonopols) als Gesellschaftsform der Vielfalt. Als Ansatz, der im Unterschied zum Staatsparadigma gerade nicht «schlicht gestrickt» ist, der sich der Komplexität der Gesellschaft stellt und diese gerade nicht in ein simplifizierendes Monokorsett presst. Dies nicht zuletzt im Wissen um die begrenzte Erkenntnisfähigkeit der Menschen, denen es deshalb schlecht anstünde, sich in Ämtern einer staatlichen Obrigkeit über andere Menschen zu erheben.

Das macht die Aufgabenstellung und die Lösungsansätze natürlich nicht einfacher, sondern im Gegenteil um Grössenordnungen schwieriger. Anarchie verheisst eben nicht Leichtigkeit – wie das Marx unterstellt – sondern verlangt die Bereitschaft, sich schwierigen gesellschaftspolitischen Aufgaben zu stellen und stetig an deren Bewältigung zu arbeiten.

- Eher lästig als schwierig sind unüberlegte Einwände wie etwa der, dass mangels eines staatlichen Gewaltmonopols einfach das Recht des Stärkeren gelte – so der zweite von Wolfgang Marx vorgebrachte Punkt.

Denn was ist das staatliche Gewaltmonopol anderes als die verfassungsmässig verbrämte Institutionalisierung des Rechts des Stärkeren? Nicht nur darf der Staat als einziger Gewalt anwenden und auch gleich selbst das Recht setzen, das er dann gewaltsam durchsetzt. Sondern es gilt dies auch dann, wenn es um seine eigenen Interessen gegenüber Bürgern und Unternehmen geht. Auch hier erlässt er allein die Gesetze, mit denen seine eigenen Rechtspositionen definiert werden; er selbst setzt diese auch gewaltsam durch, während er dem Bürger gewaltsame Gegenwehr verbietet; und zur Krönung dieses Zynismus stellt und bezahlt er auch gleich noch das Gericht, das den Streit zwischen ihm und dem Bürger «beurteilt». Da wird die von Wolfgang Marx mit Recht so hoch gehängte Gleichheit vor dem Gesetz mit Füssen getreten. Das durchsichtige Zauberwörtlein «Gewaltenteilung» vermag daran nichts zu ändern.

Dass die vom Anarchismus geforderte Alternative, nämlich eine dezentrale beziehungsweise polyzentristische Privatrechtsgesellschaft, nicht einfach zu definieren und noch viel weniger einfach umzusetzen ist und dass bei mancher Problemstellung – wie Wolfgang Marx dies formuliert – «der Teufel bekanntlich im Detail steckt», ist völlig klar. Dies muss bei einem so wenig schlicht gestrickten Modell wie der Anarchie auch nicht verwundern. Kollisionen verschiedener Rechtsordnungen, Beurteilungs- und Durchsetzungszuständigkeiten sind auch der heutigen Rechtswirklichkeit bekannt und alles andere als einfach. Zu denken ist etwa an Problemstellungen im Kontext aktueller Bevölkerungsmigrationen oder globaler Wirtschaftsstrukturen. Ein ausgesprochen weites Feld, das den Rahmen dieser kurzen Duplik natürlich sprengt.

- Und so kommt Herr Marx schliesslich zur Frage: Wer bezahlt das alles? Auch dies, wie vieles in der Anarchie, eine komplexe Frage, sodass auch die Antwort nicht einfach ausfallen kann. Nicht zufällig hat unser Privatrecht in seiner mehr als 2000-jährigen Geschichte eine Vielzahl von höchst differenzierten Kriterien entwickelt, wer wann inwiefern gegenüber wem was zu bezahlen hat. Das hebt sich wohltuend von der erschreckend einfach gestrickten Formel des Staates ab: Bei ihm sind all diese Kriterien ausgeschaltet. Ob jemand eine Leistung bezieht, ob er Kosten verursacht, ob er sich vertraglich verpflichtet hat, interessiert nicht. Zu zahlen hat schlicht, wer Geld hat. Staatliche Steuern sind – wie das staatliche Recht zu definieren beliebt – «voraussetzungslos» geschuldet. Oder etwas weniger elegant formuliert: Wer hat, dem wird genommen.

Die Anarchie hält es lieber mit der Differenziertheit des Privatrechts. Und dies auch bezogen auf die von Wolfgang Marx hier angesprochenen Kosten der Konfliktlösung. Wo eine solche gefragt ist, wird sie angeboten. Das ist nicht nur ein ökonomisches Prinzip im engeren Sinn, sondern ein generelles ethologisches Phänomen sozialer Hilfsbereitschaft. Also wird auch der Mittellose zu seiner Konfliktlösung kommen, auch ohne die vom Staat angebotene unentgeltliche Rechtshilfe. Diese ist durchaus Ausfluss jenes allgemeinen Hilfsbereitschafts-Phänomens, aber bloss ein Anwendungsfall nebst anderen. Auch ohne Staat wird kostenlose Rechtshilfe angeboten, wo sie zurecht gefragt wird. Es braucht nicht eine edlere blaublütige Obrigkeit, die das Gute in diese Welt hinunterbringt; es ist schon da.

Leicht ist das alles nicht, was sich die Anarchie da vornimmt. Da war es in der Steinzeit vermutlich einfacher. Aber dahin – hier bin ich mit Wolfgang Marx sehr einverstanden – wollen wir ja nicht zurückfallen.


Wer hat Angst vorm bösen Staat?

Replik auf die Replik von David Dürr

Von Wolfgang Marx

Eine fragwürdige Idee wird nicht dadurch besser, dass immer wieder Leute meinen, auf sie zurückkommen zu sollen: auf die Erfindung eines Perpetuum mobile, auf den ultimativen Gottesbeweis oder immer einmal wieder auf die Verheissungen der Anarchie. Dass man immer wieder auf so etwas zurückkommt, ist verständlich; denn die Belohnung im Falle des Gelingens wäre über aller Massen gross: eine nie versiegende Quelle von Energie zu besitzen, den sicheren Beweis dafür zu haben, dass ein Gott existiert, das wären unvorstellbare Triumphe.

Was aber erhoffen die Verfechter der Anarchie zu gewinnen? Sie erhoffen sich nicht weniger als den Endsieg über den bösen Geist, der aus der Hölle der Ideen ausgebrochen ist, um die Menschen zu entrechten, zu unterdrücken und auszuplündern, den Sieg über den Staat. Gegen den predigen sie mit dem heiligen Zorn barocker Bussprediger und mit deren Wort- und Bildgewalt, wenn sie beispielsweise dazu auffordern, den Staat in der Badewanne zu ersäufen. Kann man das schöner, kann man das feinsinniger formulieren?

Vor dem Hintergrund einer solchen manichäischen Weltsicht, in der die Guten, nämlich die freiheitsliebenden Bürger, gegen die Bösen, den Staat und seine Helfershelfer, in ein wahrhaft episches Ringen verstrickt sind, bekommt das Unternehmen «Ersäufen» eine geradezu metaphysische Dimension. Von daher erscheint der Kampf gegen den Staat so selbstverständlich wie der gegen den Krebs, und die Frage, wozu das gut sein soll, nicht nur töricht sondern geradezu ketzerisch. Es erübrigt sich zu erklären, was da eigentlich durch die Abschaffung des Gesetzgebungs- und Gewaltmonopols des Staates zugunsten eines freien Spiels privater Interessen und eben auch privater Gewalt optimiert werden soll (Gerechtigkeit? Freiheit, Verwaltungskosten?) und ob das alles durch die Abschaffung des Staates tatsächlich erreicht werden kann.

Man mag solche Fragen nach den konkreten Einzelheiten der Umsetzung als kleinlich und lästig empfinden, wo man doch das Grosse & Ganze im Blick hat. In der Theorie und im Grossen Überhaupt ist allerdings auch der Kommunismus eine wunderbare Sache. Erst in der Praxis wird er regelmässig zum Desaster, wo immer auf der Welt eine Praxis versucht worden ist. Die gerade aktuelle Variante des Scheiterns kann man in Venezuela besichtigen. Der Beweis des Kuchens ist eben nicht das Rezept, das mag sich verheissungsvoll lesen, der Beweis ist das Essen, und da hat sich der kommunistische Pie regelmässig als unbekömmlich herausgestellt. Ob ein anarchistischer Strudel verträglicher wäre, darf allerdings bezweifelt werden; denn wo immer auf der Welt ein Rechtsstaat, der diesen Namen halbwegs verdient, sein Gesetzgebungs- und Gewaltmonopol nicht mehr aufrecht erhalten kann, breitet sich Anarchie nicht mit Friede, Freude, Eierkuchen aus sondern mit privater Gewalt, die aus den Läufen von Kalaschnikows kommt; und nichts wird für die Menschen in Somalia oder in Mexiko, in Mali, Nigeria oder der Ukraine besser, wenn Warlords, Rebellen, selbsternannte Befreier, Gotteskrieger oder Bürgerwehren die Dinge in die Hand nehmen.

So ist das natürlich nicht gemeint mit der Anarchie; aber die Väter des Kommunismus haben wohl auch nicht an Plänen für einen Archipel Gulag oder die Killing Fields von Kambodscha laboriert. So etwas stellt sich dann früher oder später ein, wenn ein simples Rezept gegen die Widerständigkeit einer hochkomplexen und schwer durchschaubaren Realität durchgesetzt werden soll, notfalls auch mit Gewalt. Und dann geht es nicht. Nicht so und nicht anders. Und wenn dann nach der unfehlbaren Logik des Misslingens nicht etwa die Brauchbarkeit des Rezepts in Frage gestellt wird sondern als einzige Lösung des Problems gilt, mehr desgleichen anzuwenden, also mehr Gewalt, dann ist ein Schrecken ohne Ende programmiert. Der «wahre» Kommunismus, der mit dem menschlichen Antlitz, existiert nur in Platons wunderbarem Himmel der Ideen und ist in unserer sublunaren Welt nicht zu verwirklichen, so wenig wie die «wahre» Anarchie, die ohne Anwendung von Gewalt errichtet wird und in der Folge ohne sie auskommt; denn die Gewalt verschwindet ja nicht aus den menschlichen Verhältnissen, wenn sie nicht mehr auf eine nachvollziehbare und vielfältig kontrollierte Weise von einem Staat in Grenzen gehalten wird, sie vervielfältigt sich als private Gewalt und wuchert auf eine unvorhersehbare Weise in alle möglichen Richtungen weiter und ist, ist sie erst einmal in der Welt, nur schwer wieder einzuholen.

Die lange und oft blutige Geschichte des menschlichen Zusammenlebens, die uns am Ende zu der grossen zivilisatorischen Leistung des demokratisch verfassten Rechtsstaats geführt hat, der – so das Ideal – einen optimalen Ausgleich zwischen notwendigen Einschränkungen und individuellen Freiräumen ermöglichen soll, darf uns weiterhin eine Lehre sein. Wie weit ein solches Ideal durch bestehende staatliche Strukturen schon erreicht worden ist, darf und soll diskutiert werden. Auch im Ansatz gute Lösungen lassen sich fast immer noch verbessern. Hüten sollte man sich dabei jedoch vor allzu simplen, vor eindimensionalen Rezepten: Es lassen sich nicht alle tatsächlichen oder vermeintlichen Übel aus einem Punkte erklären und aus ihm heraus kurieren, dem der Regulierung. Nicht der Überstaat, der alles plant und regelt, noch der bis zur Nichtexistenz geschwächte Staat, der nichts mehr planen und regeln kann, werden zur besten aller Welten führen. Worauf es tatsächlich ankommt, ist, das optimale Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit in demokratisch legitimierten Prozessen herauszufinden und sich dem in vielen mühsamen Schritten von Versuch und Irrtum anzunähern.

Es ist schlicht abwegig, dem demokratischen Rechtsstaat zu unterstellen, er versuche wie eine Partei unter anderen, eigene Interessen mit dem Recht des Stärkeren gegen seine Bürger durchzusetzen. Der Staat ist gerade nicht Partei, er ist Schiedsrichter, der zwischen Parteien und Interessen vermittelt. Seine Rolle ist es, die Bedingungen der Möglichkeit eines friedlichen und fruchtbaren Zusammenlebens herzustellen und dauerhaft zu garantieren, und das keineswegs willkürlich sondern nach gemeinsam ausgehandelten Regeln, die verhandelbar bleiben und jederzeit durch demokratische Prozesse verändert werden können.

Die These, die Dinge würden ohne einen überparteilichen Schiedsrichter besser laufen, ist nicht plausibel. Will uns jemand ernsthaft einreden, ein Fussballspiel würde reibungsloser und friedlicher verlaufen, wenn es keinen Schiedsrichter gäbe und die Mannschaften von Fall zu Fall untereinander oder unter Mithilfe des Publikums ausmachen müssten, ob jetzt auf Tor, Abseits oder Strafstoss entschieden werden soll? Würde da je ein Spiel in 90 Minuten regulär zu Ende zu führen sein, würde es überhaupt zu Ende zu führen sein und nicht in eine allgemeine Rauferei ausarten? (Und vom Eishockey will ich lieber gar nicht erst anfangen...) Der unparteiische und an gemeinsam anerkannte Regeln gebundene Schiedsrichter ist eine grossartige Erfindung, hinter die kein vernünftiger Mensch mehr zurück möchte. Und der demokratisch verfasste Rechtsstaat ist das auch. 


Link zum Original-Artikel Schweizer Monat

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