5000 Jahre sind genug

David Dürr – Gastbeitrag Verein „Wir Menschen“ / Dezember 2022



Nach einem verbreiteten Irrglauben gehört der Staat seit eh und je zur Grundstruktur der menschlichen Gesellschaft. «Der Staat ist der innersten Natur des Menschen selbst entnommen» schrieb einst der angesehene Schweizer Rechtshistoriker Johann Jakob Bachofen. Das tönt schön, ist aber falsch.

Den Staat gibt es erst seit gestern

Es stimmt schon chronologisch nicht. Den Homo sapiens gibt es seit mehr als 100'000 Jahren; will man den unmittelbaren Vorfahren Homo erectus mit einrechnen, der immerhin schon aufrecht geht und mit dem Feuer umzugehen weiss, so sind es 500'000 Jahre. Früheste kulturelle Spuren in Form von Geräten, Waffen und Malereien sind wahrscheinlich 40'000 bis 60'000 Jahre alt. Erste Menschensiedlungen entstehen vor ungefähr 20'000 Jahren als Zeichen einer zunehmenden landwirtschaftlichen Sesshaftigkeit mit gleichzeitig aufkommenden höchst innovativen Handelsbeziehungen. Von einem Staat jedoch ist da noch keine Spur. 

Erste Staaten entstehen erst vor rund 5000 Jahren, prominent in Mesopotamien, wo fruchtbares Schwemmland grossflächigen Getreideanbau erleichtert und damit eine Wirtschaftsform entstehen lässt, die sich zur Ausbeutung und Unterwerfung anderer Menschen eignet. Denn reife Getreidefelder lassen sich vor gierigen Machthabern schlecht verbergen, saisonale Feldarbeit gut planen und überwachen, die eingefahrene Ernte langfristig haltbar aufbewahren. 

Daraus entstehen hierarchische Top down-Strukturen mit Versklavung von Untertanen für Feldarbeit, Palastbau und Kriegsdienst. Erst jetzt kommt auch die Schrift auf, um über Getreide und Menschen Buch zu führen.

Archäologische Spuren aus dieser Zeit sind eindrücklich, Schrifttafeln, Altäre, Paläste, Pyramiden; und vor allem: Sie sind aus Stein. Deshalb bleiben sie erhalten und können noch nach langer Zeit aus tiefen Schichten ausgegraben und bestaunt werden. Deshalb meint man oft, die menschliche Kultur sei erst mit dem aus Stein gebauten Staat entstanden. Verächtlich spricht man von der prähistorischen Zeit, wie wenn die Geschichte des Menschen erst mit dem Staat begonnen hätte.

Indes, gemessen an der weit zurückreichenden Geschichte unserer Spezies mit zunächst einfachen und dann zunehmend komplexen Kulturentwicklungen kommt der Staat erst ganz spät auf, menschheitshistorisch gesehen sozusagen gestern.

Ein Irrtum der Verhaltensevolution

Eine Zäsur ist das Aufkommen des Staates durchaus, zwar nicht, indem damit unsere Geschichte beginnt, sondern indem sie eine verhängnisvolle Wende nimmt. 

Denn im Gegensatz zum eingangs zitierten Satz ist der Staat gerade nicht «der innersten Natur des Menschen selbst entnommen». Er steht vielmehr in diametralem Gegensatz zu dem, was die Evolution aus dem Menschen gemacht hat. Sein weit überdurchschnittlich entwickeltes Gehirn verhilft ihm zu einer virtuosen Steuerungsinstanz, nämlich der jeweils eigenen Subjektivität, und damit zu so hervorragenden Fähigkeiten wie abstraktes Denken, zukunftsgerichtetes Planen und vor allem im Sinn des Wortes selbst-bewusstes Entscheiden. 

Dies verschafft ihm nicht nur grosse Vorteile gegenüber anderen, weniger intelligenten Tieren, sondern auch in seinem eigenen Sozialgefüge. Nebst nützlichen Gerätschaften entwickelt er raffinierte Gruppenstrukturen, Synergien, Kooperationen, Konfliktbereinigungen, Arbeitsteilungen, Abstimmungen. Daraus ergibt sich ein höchst differenziertes, vielfältiges und leistungsstarkes Sozialnetz, ein millionenfach verknüpftes und gerade deshalb sehr stabiles Geflecht von Beziehungen, die täglich neu ausgetestet, korrigiert und optimiert werden – graswurzelartig bottom up.

Ganz anders der nun plötzlich hereinplatzende Staat. Er lässt bis dahin völlig undenkbare Allmachtfantasien aufkommen, verkehrt die so erfolgreiche Dezentralität ins Gegenteil und spielt sich selbst als oberste, für alle Landesbewohner zuständige Machtzentrale auf. Seine Untertanen gehören nun plötzlich nicht mehr sich selbst, sondern ihm, dem Staat, mit seinem Gewaltmonopol. Da hat sich die Verhaltensevolution in ihrem Spiel von Versuch und Irrtum für einmal kräftig geirrt.

Ein zerbrechliches Gebilde

Irrtum ist keine stabile Basis. Kein Wunder steht dieser Staat permanent im Krieg: Zur Niederhaltung seiner Untertanen, zur Eroberung neuer Gebiete, zur Bekämpfung konkurrierender Eroberer, und dies seit 5000 Jahren so ziemlich pausenlos. 

Und kein Wunder behaupten sich abseits der grossen Machtballungen unentwegt auch dezentrale Gesellschaftsstrukturen, etwa in so abgelegenen Berggegenden wie der Schweiz. Sie schafft es, den grössten Teil ihrer Geschichte ohne oberste Machtzentrale auszukommen; mit ihren Stammeskulturen der Römerzeit, ihren kooperativen Bündnissen des frühen Mittelalters, ihren Schlichtungsstrukturen der «alten Eidgenossenschaft – bis Napoleon dem ein Ende setzt und die Schweiz einer «helvetischen» Staatszentrale unterwirft.

Nach dem Fall Napoleons lebt für kurze Zeit wieder die Struktur eines dezentralen Bundes auf, aber 1848 kehrt die staatliche Macht zurück, indem die «liberalen» Siegerkantone des Sonderbundkriegs die militärisch besiegten katholischen Kantone in einen neuen Bundesstaat zwingen. Völkerrechtlich wäre Einstimmigkeit zwingend.

Verfreiwilligen

Um diesen völkerrechtswidrigen Staatsstreich zu verschleiern, wird das neue Gebilde wohlklingend «Schweizerische Eidgenossenschaft» getauft. Das soll so tönen, wie wenn sich alle Menschen dieses Landes freiwillig zu einer grossen Selbsthilfeorganisation, einer Genossenschaft eben, zusammengeschlossen hätten – ein ziemlich durchsichtiger Etikettenschwindel!

Aber warum nicht diese «Schweizerische Eidgenossenschaft» bei ihrer Etikette behaften? Warum nicht dafür sorgen, dass sie doch noch zu einer echten, das heisst freiwilligen Selbsthilfeorganisation wird. Das würde ihr auch die Stabilität geben, zu der eine menschliche Gesellschaft fähig ist, wenn sie bei den einzelnen Mitgliedern ansetzt – eben graswurzelartig bottom up.

Der Preis, den eine verfreiwilligte Eidgenossenschaft für die so gewonnene Stabilität zu zahlen hätte, wäre die Herausforderung eines gesunden Wettbewerbs mit vielen anderen, ebenfalls freiwilligen Selbsthilfeorganisationen. Das wäre zwar anstrengender als das heutige Monopol, aber – wie jedermann weiss – bringt Wettbewerb für alle Beteiligten letztlich nur Vorteile.

Sie stehen bereit

Und sie stehen schon bereit, diese künftigen bottom up-Konkurrenten der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Nicht nur die vielen bereits bestehenden privaten Genossenschaften und sonstigen kleinen oder grösseren Privatunternehmen, sondern immer mehr auch neu entstehende Vereine, Selbsthilfegruppen und Graswurzelbewegungen – speziell seit Corona.

Es sieht ganz danach aus, dass die staatstypischen Allmachtfantasien mit ihren Weltregierungsträumen schon bald ausgeträumt sein könnten. 5000 Jahre Staatsmacht sind wohl mehr als genug. 


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